Die Entwicklung ist dramatisch: 26 000 Kinder im Land sind übergewichtig – das sind 28 Prozent mehr als vor Corona. Ein neues Programm soll Abhilfe schaffen.
Bewegungsmangel ist die Epidemie des 21. Jahrhunderts: Das beobachtet Sportwissenschaftlerin Franziska Borst immer wieder. „Nur jedes zehnte Kind bewegt sich ausreichend“, sagt sie, und die Folgen sind deutlich spürbar. Das bestätigen andere Experten aus dem Gesundheitsbereich. Simon Knupfer von der AOK berichtete bei der Auftaktveranstaltung zum Bewegungspass in Dettingen gestern von einer dramatischen Entwicklung, was das Übergewicht angeht. „26 000 Kinder in Baden-Württemberg sind übergewichtig“. Die Tendenz ist rapide steigend: Seit Corona hat die Zahl um 28 Prozent zugenommen.
Ein Teufelskreis
Die Pandemie, auch das ist unstrittig, hat die Lage verschärft, sowohl, was den Bewegungsmangel als auch das oft daraus resultierende Übergewicht angeht. „Spiel- und Bolzplätze waren in den Lockdowns gesperrt, Schulen und Kitas geschlossen, der Vereinssport konnte nicht stattfinden“, blickt Landrat Dr. Ulrich Fiedler zurück. Abwechslung versprachen für viele Kinder und Jugendliche da nur Fernseher oder Smartphone. So manch einer mutierte zur Couchkartoffel, und damit wurde ein Teufelskreis in Bewegung gesetzt. Wer sich wenig bewegt, nimmt zu und wer viel wiegt, bewegt sich noch weniger.
Den Anfängen wehren
Darum hat der Landkreis beschlossen, den Anfängen zu wehren – mit dem „Bewegungspass“ für alle Kinder im Kreis zwischen zwei und sieben Jahren. Entwickelt wurde er von der Stadt Stuttgart im Jahr 2016 unter der Federführung von Franziska Borst, die auch ihre Masterarbeit zu diesem Sportförderprogramm verfasst hat. In der Landeshauptstadt gibt es den Pass seit mehreren Jahren, die Bewertungen und Rückmeldungen sind enorm positiv, ebenso die Erfolge. Daher wurde beschlossen, das Projekt über die Stadtgrenzen hinaus auszudehnen.
Der 16. Kreis im Land
Reutlingen ist der 16. Landkreis, der einsteigt. Als Multiplikatorin konnte Silke Münzing gewonnen werden, die zum einen Abteilungsleiterin Leichtathletik im TSV Dettingen ist, zum anderen in den Vorschulgruppen der Kindergärten aktiv. Die Erzieherinnen werden ab sofort geschult, um den Bewegungspass umsetzen zu können. Dettingens Bürgermeister Michael Hillert betonte ebenfalls, wie wichtig Bewegung ist.
„Sie kommen ins Schwitzen“
In zehn Kategorien können die Kinder künftig 32 Fertigkeiten erwerben und die sind nicht ohne: „Sie kommen dabei ordentlich ins Schwitzen“, sagt Borst, für manche Aufgabe muss man bestimmt auch länger üben. Dafür gibt es für jede Herausforderung, die gemeistert wurde, einen Tiersticker, vom Känguru übers Eichhorn bis zur Schlange. Das Chamäleon dient als Joker, denn schließlich kann nicht jedes Kind alles, und das Schaf ist eine zusätzliche Kategorie, die es nur im Landkreis Reutlingen gibt. Der Pass ist also so etwas wie „Panini-Heft der Motorik“, erklärt Franziska Borst das Konzept, und weil Kinder geborene Sammler sind, strengen sie sich enorm an, um alle Sticker zu bekommen. Viele der Übungen kommen spielerisch daher und die Kinder werden Spaß daran haben.
Kinder lieben Bewegung
Im Grunde sei es auch so, dass „Kinder Bewegung von klein auf lieben“, betonte Fiedler, „aber sie brauchen Raum und Angebot dafür“. Der Bewegungspass bietet dafür weitere Möglichkeiten. Kinder, die Sport machen, profitieren davon auf vielfältige Weise, machte Fiedler deutlich: Sie sind fit und meist nicht übergewichtig, haben eine höhere Frustrationstoleranz und das Sozialverhalten trainieren sie en passant. Zudem ist es wichtig, in jungen Jahren mit der Bewegung zu beginnen, denn der Zenit sei mit 25 überschritten, so Borst, allerdings kann man Beschwerden hinauszögern, wenn man von jung an aktiv ist.
Niederschwelliges Angebot
Oft liegt es gar nicht an den Kindern, wenn diese zu Bewegungsmuffeln werden, sondern an den Eltern, die zu wenig Zeit haben oder selbst nicht gerne Sport machen. Darum ist ein großer Pluspunkt vom Bewegungspass, dass er niederschwellig ist und dass sich Kindertageseinrichtungen und Vereine daran beteiligen, sodass die meisten Kinder erreicht werden.
Quelle: Südwest Presse